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Matthias Keller | Bilder       

Katalogtext anlässlich der Ausstellung „Wege“ in der Galerie im Körnerpark, Berlin,1993

 

 

„Man ahnt das Gesicht.“

(Beckett)

 

Matthias Keller, Jahrgang 1960, in Leonberg bei Stuttgart aufgewachsen, steht als Künstler in einem bestimmten seelisch-philosophischen Kontext. Ersieht sein künstlerisches Engagement zugleich als Teil einer veränderbaren Öffentlichkeit, für die das ästhetische Produkt über die Rezeption des Einzelnen auch eine gesellschaftliche Relevanz erhält. Schon während seiner Studien an der Stuttgarter Kunstakademie, die er 1986 abschloß, hat er in der Leonberger Kulturszene ideenreich und konzeptionell gewirkt.

 

In seinem Werk begegnen und mischen sich geistige Einflüsse und formale Stile. Östliches und westliches Denken, informelle und objektbezogene Elemente kommen in seinen Bildern zusammen, deren Komplexität Ergebnis eines sorgfältig entwickelten, intensiv optimierten Herstellungsprozesses ist. Nach intuitivem Anfang beginnt die dialektisch fruchtbare Auseinandersetzung zwischen dionysischen und apollinischen Kräften. Der spontane Malakt wird ordnend reflektiert und weiter komponiert. Bis zu einem Dutzend Übermalungen einzelner Bildelemente, teils mit feinsten, transparenten Farblasuren, schaffen pulsieren dichte Strukturen.

 

Auf grauen, schmutzigroten, leuchtend tiefblauen, abgründig schwarzen Grundflächen bewegen sich konstruktive und polymorphe Körper in hochexplosiven Spannungsverhältnissen. Durch axiale Symmetrien, markante lineare Gliederungen wird der Blick konzentriert auf die zeichenhaft agierenden Kräfte eines Bildkosmos, dessen Bühne die Konfrontation und Integration von Ordnung und Chaos in stetiger Metamorphose zeigt. Energiewirbel, Auge und Fenster, aus der Rationalität trigonometrischer Körper dynamisierte Flugobjekte, kristalline, splitternde Farbklänge, symbolhafte Chiffren wie Haus, Boot und ziffernblatt sind bedeutungsvoll, symbiotisch aufeinander bezogen. Die Frage nach dem Sinn des Seins, in einer zentrifugal auseinanderfallenden Welt - wie kann sie beantwortet werden?

 

In Ernst Blochs Experimentum Mundi finden sich die Sätze: „Heraus zu unfertigem Halt. Es kann nicht gegangen werden, ohne dass wer geht. Immer zur Nähe voran.“Sie beschreiben eine wesentliche Funktion von Kunst in unserer entfremdeten Welt technologischer Zivilisation. Im Kern des modernen, zersplitterten Bewusstseins existiert der Drang nach dem Subjekt inmitten undurchdringlicher Objektzusammenhänge, durchschossen von Unsicherheit, Angst, Entmenschlichung, Anonymität.

 

Statt des Endes der Kunstperiode, das Hegel schon für das heraufziehende Zeitalter der Wissenschaft anvisiert hatte, bietet die Krise der Kunst die Chance zum Wandel, der nicht den narzisstischen Rückzug in bürgerliche Individualität, sondern der Kunst als gesellschaftlichen Auftrag ein kollektives Bewusstsein intendiert.

 

Matthias Keller verwirklicht in seinem Werk die Rolle des Künstlers als Hersteller einer solchen kollektiven Subjektivität, die sich bei jedem Kontakt von Werk und Betrachter kommunikativ ereignet. Beuys sprach in diesem Zusammenhang von „forschenden Arbeiten an der Wirklichkeit“, in dessen Prozess die Kräftekonstellationen des Lebendigen, des Psychisch-Geistigen immer neu thematisiert werden. Im künstlerischen Akt sich selbst und die Welt begreifbar zu machen, öffnet die Möglichkeit zur gemeinsamen Wahrnehmung, Reflexion, vielleicht zur Aktion.

 

Kunst als „Freizeitswissenschaft“ entgrenzt den Künstler und sein Publikum aus ihren individuellen und sozialen Determinanten, bringt sie zum „Drehen übers Unmittelbare hinaus“ (Bloch). Die unmittelbar spürbare Dynamik von Kellers Malerei lebt aus solchen Geist.

 

Dietholf M. Zerweck

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