MATTHIAS KELLER
Malerei / Grafik / Installationen
Südkurier FN
31.03.2011 | von Harald Ruppert
Friedrichshafen
Nieder mit stabilen Verhältnissen
Friedrichshafen - Morgen Vernissage: Ausstellung von Matthias Keller in der Plattform 3/3
Fixe Verhältnisse gibt es nicht in der Ausstellung „Neue Zeichnungen“ des in Markdorf lebenden Künstlers Matthias Keller. Manchmal eliminiert er die Verhältnisse sogar völlig, wie in jenen Zeichnungen, in denen die Menschen, obwohl flügellos, das Fliegen lernen: Wie von einem Trampolin in die Höhe katapultiert, befinden sie sich im leeren Raum. In minutiöser Arbeit hat Keller nur mit dem Bleistift erstaunlich realistische Körper geschaffen, die sich dennoch in einem utopischen Zustand befinden – so wie jener nackte Mensch, der, völlig allein auf einem sonst leeren Blatt, nach unten greift, als wollte er die Übrigen, die sich wohl unten tummeln, zu sich in die Höhe ziehen. Man merkt: Die Szenerie ist ein Sinnbild, das allerdings mit Wirklichkeitsflucht wenig zu tun hat – warum auch aus einer Wirklichkeit fliehen, die, anders als die gängige Gesellschaftskritik meint, gar kein einengendes Gefüge mehr bildet? „Der Kulturphilosoph Jean Gebser hat schon vor Jahrzehnten das sogenannte integrale Zeitalter beschrieben, in dem wir uns heute befinden“, sagt Matthias Keller. „Die Wege werden kürzer, die Zeit vergeht schneller, die Komplexität steigert sich immer weiter und man muss sich ständig neu orientieren.“
Eine solche Gegenwart kann orientierungslos machen, sie kann aber auch befreien – denn wo man sich dauernd neu orientieren muss, brechen auch die Gitterstäbe bislang stabiler Verhältnisse entzwei, Freiheit entsteht. Ganz egal, ob Matthias Keller nun ungeheuer detailgenau gegenständlich oder aber abstrakt arbeitet – immer gelingen ihm Bilder, die von dieser Instabilität geprägt sind.
Da sind etwa jene gegenständlichen Zeichnungen, in denen sich surreale Ordnungen aufbauen, die das gewöhnliche dreidimensionale Raumverständnis übersteigen: Ein Chinese fährt mit einem überladenen Lastkarren durch einen geschlossenen Innenraum – oder ist dieser gezeichnete Anhänger eine bemalte Leinwand, und der Chinese tritt aus der Leinwand in die Wirklichkeit? Und ist es nicht eine geradezu ideale Wirklichkeit, in der eine solche Durchlässigkeit zwischen Kunst und Leben möglich ist? Das herkömmliche Raumverständnis lahmzulegen bedeutet, eine neue Realität zu schaffen – auch dort, wo eine Figur eine Kiste die Treppe hinunter trägt, und der Boden der Kiste zugleich einen Raum öffnet, in dem sich ein komplettes Zimmer befindet. Viele dieser Blätter, auch das letztgenannte, sind eine Reaktion auf Matthias Kellers jüngste Ausstellung im Kunstverein Markdorf. Die besagte „Kiste“ nennt Matthias Keller „Refugium“ – Rückzugsort. Ein solches Refugium befand sich inmitten der Markdorfer Ausstellung, und im Inneren fand man, wann immer ihm danach war, den Künstler selbst, der darin zeichnete. Keller zeichnet mit diesem Blatt, das nun in der Ausstellung im Fallenbrunnen zu sehen ist, nicht nur einen utopischen Raum, sondern er hat schon zuvor, in Markdorf, die Utopie umgesetzt, indem er, arbeitend im realen Raum des Refugiums, den Übergang zwischen künstlerischem Schaffen und Wirklichkeit einübte. Die Grenzen werden durchlässig, es gibt einen Raum, der von der Kunst ins Leben führt – wie auch beim Bildnis des Chinesen mit dem Karren.
In einer dritten Werkgruppe schafft Mathias Keller Ordnungen, bei denen es sich gleichermaßen um „künstliche“ Bilder wie um dekonstruktivistische Architekturen handelt – auch hier ist der Übergang von Kunst und Leben fließend, und zentral ist der Aspekt des Dekonstruktivismus: Obgleich gezeichnet, wirken die Bilder collagiert, das heterogene Formgefüge vorläufig und fragil, als sei es dazu geschaffen, fortwährend umgebaut werden. Architektonische Versatzstücke der „realen“ Welt, wie etwa Treppen, verbinden sich mit krakeligen Linien, die man rein der Kunst zurechnet – ein Brückenschlag, möglich durch die Aufhebung „stabiler Verhältnisse“
Harald Ruppert
Kulturredakteur Friedrichshafen